Auszug aus „Der Massschneider“ aus dem Jahr 2014

 

let your love flow

Karwoche 1978. Kühle Brise. Schön.

Die Glocken fliegen nach Rom, sagt Oma. Und warum? Weil sie das immer tun.

Wenn du genau schaust, siehst du sie am Himmel.

Seppi schaut und er sieht sie. Besonders toll findet er den wächsernen nackten Jesus, mit der offenen Wunde und dem Dornenkranz. Schön ist er, wie er so daliegt.

Ist der echt?

Ja, das ist der Herrgott.

Und warum liegt er da hinter Glas?

Weil Ostern ist.

Oma hat auf alles eine Antwort. Mehrmals täglich kommt er zu diesem Wachsmann. Dann kniet er vor ihm, beide Hände auf dem Glas. Angreifen will er ihn, rein in den Glassarg. Wie es dort drinnen wohl riecht? Spüren will er ihn, die Finger auf die Wunde legen. Wie hypnotisiert sitzt er vor dem liegenden Jesus und träumt davon, bei ihm da drin zu sein. Eines Tages nimmt er den ganzen Mut zusammen und versucht, durch den schmalen Spalt zwischen Deckel und Seitenwänden, „damit der Herr Jesus eine Luft kriegt“, durchzukriechen. Der Bub macht sich so dünn er nur kann und mit einiger Mühe rutscht er in den Glassarg. Erst zögert er noch, den Jesus anzufassen, aber dann…Das Gefühl mit seinen Fingern über die Wunde zu streichen ist gigantisch. Seppi steigert sich so sehr in das Hochgefühl hinein, neben dem Herrn Jesus liegen zu dürfen, dass er erst gar nicht merkt, dass längst der Pfarrer vor dem Sarg steht und rot anläuft. Der weiß zunächst gar nicht wie er reagieren soll. Er schüttelt den Kopf „das ist ja unglaublich“, bekreuzigt sich und holt Hilfe aus dem Pfarramt. Dann kommt ein ganzes Geschwader indischer Nonnen, die den Buben aus seiner verhängnisvollen Lage befreien. Womit sie nicht gerechnet haben: er will gar nicht befreit werden. Das macht den Pfarrer dann erst so richtig zornig.

Schluss mit dem Theater. Komm raus da, das ist doch Blasphemie.

Keine Ahnung hat der Bub, wovon der da spricht. Er ist nur traurig, dass er den Herrn Jesus verlassen muss. Jetzt, wo es angefangen hat, so richtig Spaß zu machen.

Nun darf er nur noch mit Oma zusammen in die heilige Messe. Sie zeigt ihm, wie man betet. So knien sie dann nebeneinander auf den harten Holzbänken, Hände gefaltet und murmeln. Oma sagt, sie betet für ihren verstorbenen Mann, der aus dem Krieg nicht mehr zurückgekommen ist. Und Seppi betet für sich selbst.

Lieber Gott, mach bitte, dass ich ganz gescheit werde. Mach bitte, dass ich ganz schön werde. Dann mach bitte auch noch, dass ich schlank werde. Mach  bitte, dass ich berühmt werde. Mach bitte, dass ich noch einmal neben dem Herrn Jesus liegen und ihn anschauen darf. Mach bitte, dass meine Mama nett ist. Amen!

Seppi steht voll drauf. Auf’s Beten und auf die Kirche. So oft es geht ist er bei der Oma auf dem Land. In diesem kleinen Nest im Waldviertel. Die Landschaft ist schön, der Wald, die Wiesen, der Himmel. Alle Menschen, die hier leben, sind streng katholisch. In der Kirche ist es angenehm kühl. Die Kirchenfenster sind so schön bunt. Und wenn der Pfarrer spricht: Sein Blut, sein Leib! Seppi bleibt immer der Mund weit offen, wenn er den Pfarrer dann das Blut trinken sieht. Wie das Blut in den Kelch kommt, versteht er nicht, traut sich aber nicht zu fragen. Auch die Oma nicht.

Ist das aus dem Glassarg, wo der drin liegt. Ist der schon so alt? Der echte Herr Jesus ist doch viele hundert Jahre alt. So sieht er gar nicht aus. Das Blut, das Wachs, seltsam. Eine Puppe?

In der Wohnung in Wien gefällt ihm die Beterei nicht. Mutter hat in jedem Zimmer so einen Gekreuzigten aufgehängt. Auch auf dem Klo. Das ärgert ihn besonders. Er will nicht, dass ihm der Herr Jesus beim Kacken zuschaut. Da geniert er sich. Mit Mutter muss er auch beten, aber die ist immer so unwirsch. Packt ihn am Hemdkragen, zerrt ihn vor’s Kreuz, dann knien sie nebeneinander. Aber mit ihr macht das keinen Spaß. Mit Oma schon. Außerdem stört Oma nicht, dass er ein dicker Bub ist.

Heuer ist es zu Ostern besonders warm. Den ganzen Winter fiebert der Bub dem Tag entgegen, wo er endlich seine geliebte kurze Lederhose anziehen kann. Die trägt er dann den ganzen Sommer über. Er mag den Wind auf der nackten Haut. Auch wenn es noch nicht ganz so warm ist, lange Hosen zieht er ganz bestimmt keine mehr an, bevor nicht Ende September ist. Wenn Oma kocht, sitzt er gerne auf den Steinstiegen, die hinunter in den Keller und die Waschküche führen. Da ist es kühl, da ist es dunkel. Es riecht modrig aus dem Keller herauf. Von einer der zahlreichen Freundinnen der Oma hat er Puppen geschenkt bekommen. Er kennt diese Freundin nur als Frau Reischer, auch Oma nennt sie so. Eine Alkoholikerin, mit triefenden Augen, einem zahnlosen Lächeln, dürr wie eine Bohnenstange, herzensgut. Meist trägt sie schwarz. Auch sie ist eine Kriegswitwe. Nach dem Krieg, als ihr Mann ging, kam der Alkohol. In dieser entbehrungsreichen Zeit Fusel aufzutreiben, war gar nicht so einfach. Lieber verzichtete sie auf feste Nahrung, aber niemals verzichtete sie auf Wein, Schnaps, oder was gerade greifbar war. Irgendwie gelang es ihr immer Hochprozentiges zu organisieren. Damals erwachte auch ihre Leidenschaft für Puppen. Sie kauft billige kleine Plastikpüppchen und häkelt ihnen Prinzessinnenkleider auf den Körper. In allen erdenklichen Farben, gestreift, alle mit einem aufgeplusterten Sissi-Rock, wie in der guten alten Zeit.